Ein Grundgedanke von Orem war, mit dem Pflegemodell die Eigenständigkeit der Pflege zu fördern, indem sie die tief verwurzelte medizinische Denkweise in ihr Modell integrierte. In vielen Fällen verwendet sie medizinische Begriffe, um wichtige Konzepte ihrer Theorie zu umschreiben, wie z.B. "Diagnose".
Da sich dieses Modell als Ganzes an der institutionalisierten Pflege und am einzelnen Individuum orientiert, findet es bei den Pflegenden auch große Akzeptanz. Es kann und soll daher in der Praxis angewendet werden, damit eine Weiterentwicklung der bereits vorhandenen Theorie mit ihren Konzepten erfolgt. Natürlich gibt es noch Einiges, dass kritisch hinterfragt werden muss, bzw. Grundlage für weitere Forschung sein wird und muss.
Um Sinn und Zweck des Oremschen Modells zu verstehen, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Fachsprache. Die verwendete Terminologie ist gewöhnungsbedürftig, daher wird in diesem Artikel nach einer kurzen Einleitung, der Schwerpunkt auf die Bedeutung der Schlüsselbegriffe gelenkt.
Einleitung
Zum besseren Verständnis – was Pflege ausmacht – konzentrierte sich Orem in den späten fünfziger Jahren auf drei Fragestellungen (Cavanagh, 1995, S. 19)
"Was tun Pflegepersonen, und was sollten sie als Pflegepraktiker tun"
"Warum tun Pflegende das, was sie tun?"
"Zu welchen Ergebnissen führen pflegerische Maßnahmen?"
Die Wurzeln dieser Fragestellungen beruhen auf den umfangreichen praktischen Erfahrungen von Orem und bilden den Grundstein für ihre späteren Werke. In der deutschen Übersetzung wird die Leitidee ihres Modells meist als Selbstpflege- oder Selbstfürsorgedefizit (self-care deficit) bezeichnet. Orem (1991) selbst spricht von einer "General Theory of Nursing" (allgemeine Theorie der Pflege). Die Pflegetheorie von Orem über das Selbstpflegedefizit beinhaltet drei Theorien, welche miteinander verbunden sind. Der gemeinsame zentrale Gedanke ist, dass die Menschen funktionieren und leben, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden aufrechterhalten, indem sie für sich selbst sorgen.
Die drei Theorieteile von Orems Selbstpflegemodell sind:
die Theorie über die Selbstpflege
die Theorie über ein Selbstpflegedefizit
die Theorie über das Pflegesystem
Zur Strukturierung des Selbstpflegemodells werden sechs zentrale Begriffe genannt, wie Selbstpflege, Selbstpflege-Handlungskompetenz, Therapeutischer Selbstpflegebedarf, Selbstpflegedefizit, Pflege-Handlungskompetenz und Pflegesystem.
Schlüsselbegriffe
Selbstpflege
Die Ausübung von Handlungen, die der Mensch in seinem eigenen Interesse zur Erhaltung seines Wohlbefindens, seiner Gesundheit und seines Lebens ausführt oder anstrebt, wird als Selbstpflege bezeichnet. Selbstpflege ist zielgerichtet, sie trägt zur strukturellen Integrität, zum Funktionieren und zur Entwicklung des Menschen bei (vgl. Meleis, 1999, S. 607).
Die Fähigkeiten dazu sind von Mensch zu Mensch verschieden und sind abhängig von:
Alter, Entwicklungsstand, Lebenserfahrung
soziokultureller Orientierung
dem momentanen Gesundheitszustand
den Ressourcen des Einzelnen
Handelnder
Orem bezeichnet damit eine Person, welche die jeweilige Pflege tatsächlich durchführt.
Selbstpflegerisch Handelnder
Damit meint Orem eine Person, die ihre eigene Pflege selbst vornimmt
Selbstpflegekompetenz (self-care agency)
Laut Orem ist dies – die Fähigkeit eines Menschen – sich an der eigenen Selbstpflege zu beteiligen
Kompetenz, Abhängige zu pflegen (dependent care)
Dies ist eine Situation, in denen Menschen einander pflegen, ohne dass daran eine professionelle Pflege direkt beteiligt ist. Wesentlich dabei ist, dass diese "pflegenden" Menschen erkennen können, welchen Selbstpflegeerfordernissen die betroffenen Personen nicht gerecht werden können, sowie die Fähigkeit zur stellvertretenden Übernahme der
jeweiligen individuellen Erfordernisse. Der Zweck der Selbst- und Abhängigenpflege ist, den therapeutischen Selbstpflegebedarf zu erfüllen.
Therapeutischer Selbstpflegebedarf (therapeutic self-care demand)
Darunter versteht man Selbstpflegehandlungen, die ein Mensch benötigt, um seinen Selbstpflegeerfordernissen gerecht zu werden und beruht daher auf bewusstem Handeln.
Selbstpflegeerfordernisse
Unter diesem Begriff versteht Orem jene Selbstpflegehandlungen, die ein Mensch ausüben muss, um selbstpflegend handeln zu können, damit er seinen Selbstpflegeerfordernissen gerecht werden kann. Drei verschiedene Arten – universelle, entwicklungsbezogene und gesundheitlich bedingte Selbstpflegeerfordernisse – bilden den therapeutischen Selbstpflegebedarf (vgl. 1999, S. 608). An dieser Stelle möchte ich noch einen weiteren Punkt von Orem einbringen, den ich ohne Zweifel auch für sehr wichtig halte, denn er betrifft die präventive Gesundheitspflege.
Präventive Gesundheitspflege
Orem hebt (vgl. Cavanagh, 1995, S.29) als eine zentrale Komponente ihres Modells die präventive Gesundheitspflege besonders hervor. Damit wird sie auch den gegenwärtigen Bestrebungen gerecht, anstelle der Krankheit die Gesundheit in den Mittelpunkt der Pflege zu stellen. Sie unterscheidet:
"primäre Prävention" d.h. den universellen Selbstpflegeerfordernissen auf effektive Weise gerecht zu werden.
"sekundäre Prävention", darunter versteht sie die Abwendung nachteiliger Auswirkungen oder Komplikationen von Krankheiten mittels Früherkennung.
"tertiäre Prävention", diese definiert sie als die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen als Folge von Entstellungen und Behinderungen.
Selbstpflegedefizit (self-care requisite)
Damit meint sie das konzeptuelle Bild von Pflegerezipienten als Personen, die wegen gesundheitlichen Einschränkungen nicht imstande sind, sich ständig selbst zu pflegen
oder unabhängig von anderen für sich selbst zu sorgen. Reicht ihre Handlungskompetenz nicht zur Erfüllung des therapeutischen Selbstpflegebedarfs der von ihr abhängigen Personen aus, entsteht ein Abhängigenpflegedefizit. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Handlungsbedarf für die Selbstpflege bzw. Abhängigenpflege größer ist als die gegenwärtige Selbstpflegekompetenz (vgl. Fawcett, 1998, S. 299).
Pflege-Handlungskompetenz
Unter diesem Begriff werden ausgebildete Pflegepersonen definiert. Diese sind in der Lage, mit ihren erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten den therapeutischen Selbstpflegebedarf anderer zu erkennen und ihnen dabei zu helfen, ihn ebenfalls zu erkennen und zu erfüllen, sowie die eigene Handlungskompetenz für die Selbstpflege und Abhängigenpflege weiterzuentwickeln und zu regulieren (vgl. Fawcett, 1998, S.302). Im nächsten Abschnitt erklärt das System, wie sich die jeweiligen Selbstpflegeerfordernisse erfüllen lassen und pflegerische Maßnahmen zu benennen sind, um den gesamten therapeutischen Selbstpflegebedarf angemessen erfassen zu können, die Rollen zu beschreiben, welche die Pflegekraft, der Selbstpflegeagent und der Agent der Abhängigenpflege übernehmen sollen, um den therapeutischen Selbstpflegebedarf zu erfüllen und die Selbstpflegekompetenz zu regulieren.
Das Pflegesystem
Hier beschreibt Orem therapeutische Selbstpflegeerfordernisse und die Handlungen oder Systeme zur Selbstpflege, die bei Menschen mit Selbstpflegedefiziten im Rahmen ihrer vertraglichen oder zwischenmenschlichen Beziehungen notwendig sind. Sie beschreibt drei Arten von Pflegesystemen, welche Cavanagh (1995, S. 48ff) wie folgt übersetzt.
Das vollständig kompensatorische Pflegesystem
Die Pflegekraft muss alle therapeutischen Selbstpflegehandlungen für den Kranken übernehmen. Durch das Unvermögen, Selbstpflege zu praktizieren, wird eine kompensatorische Pflege oder ständige Anleitung des Betroffenen zur Selbstpflege erforderlich.
Aufgaben der Pflegefachkraft:
die mangelnde Selbstpflegekompetenz des Patienten kompensieren
den Patienten unterstützen und schützen
für den Patienten urteilen und entscheiden
die vorhandenen Fähigkeiten des Patienten fördern bzw. erhalten
Das teilweise kompensatorische Pflegesystem
Pflegekraft und Patient kümmern sich um die Erfüllung der Selbstpflegebedürfnisse.
Aufgaben des Patienten
einige Selbstpflegetätigkeiten selbst vornehmen
die Unterstützung durch das Pflegepersonal annehmen Aufgaben der Pflegefachkraft
einige der Selbstpflegetätigkeiten für den Patienten vornehmen
Einschränkungen der Selbstpflegekompetenz des Patienten kompensieren
den Patienten bei Bedarf zu unterstützen
Das unterstützend-erzieherische Pflegesystem
Bei diesem System braucht der Patient Unterstützung bei Entscheidungen, bei der Verhaltenskontrolle und beim Erwerb von Wissen und Fertigkeiten. Er kann Selbstpflege mit Unterstützung durchführen.
Aufgaben des Patienten
den Erfordernissen der Selbstpflege gerecht werden
weiter dazu lernen und neue Selbstpflegefähigkeiten entwickeln Aufgaben der Pflegefachkraft
den Patienten bei Entscheidungsprozessen unterstützen
den Patienten beim Lernen unterstützen
die für den Patienten wichtigen Informationen regelmäßig auffrischen
Das Pflegesystem (Cavanagh, 1995, S. 52) soll dynamisch und anhand der Pflegeplanung nachvollziehbar sein,
denn der Patient kann anfangs ein vollständig kompensatorisches Pflegesystem benötigen, um seinen universellen Selbstpflegeerfordernissen gerecht zu werden. Doch mit der Verbesserung seines Gesundheitszustandes muss sich auch das für ihn angemessene Pflegesystem verändern. Durch die zunehmende Beteiligung des Patienten an seiner Pflege kann es zum Übergang in ein unterstützend-anleitendes System kommen. Nach Festlegung des adäquaten Pflegesystems folgt die Auswahl der Methoden zur Unterstützung, dabei stehen fünf Möglichkeiten zur Verfügung:
Handeln für den Anderen
Anleitung des Anderen
Physische und psychische Unterstützung des Anderen
Bereitstellung und Aufrechterhaltung einer entwicklungsfördernden Umwelt
Unterrichtung des Anderen
Der Pflegeprozess
Der Pflegeprozess ist ein Vorgang, bei dem die Pflegefachkräfte zwischenmenschliche und soziale sowie technisch-professionelle Handlungen vornehmen (vgl. Cavanagh, 1995, S. 41ff).
Bei zwischenmenschlichen und sozialen Handlungen sollen Pflegefachkräfte im Umgang mit dem Patienten:
effektive Beziehungen zum Patienten, zu seiner Familie und anderen Beteiligten aufbauen und aufrechterhalten
mit dem Patienten und den betreffenden anderen Personen übereinkommen, dass sie für gesundheitsbezogene Fragen zur Verfügung stehen
kontinuierlich mit dem Patienten und den anderen Personen zusammenarbeiten und Informationen gemeinsam besprechen
Diese Prozesse müssen über die gesamte Dauer der Pflegebeziehung aufrechterhalten und – wo erforderlich– modifiziert werden.
Technisch – professionelle Handlungen
untergliedert Orem in:
diagnostische (Assessment) Handlungen sind das Suchen nach und das Sammeln von Informationen über die Differenz von Selbstpflegefähigkeit und Selbstpflegebedarf eines Patienten, was wiederum zur Pflegediagnose führt. Die Pflegediagnose beinhaltet daher üblicherweise zwei Fragestellungen und zwar zum Einen, worin der gegenwärtige und zukünftige Selbstpflegebedarf des Patienten besteht, zum Anderen darauf, welche Fähigkeiten (Ressourcen) er besitzt, um diesen zu decken.
verordnete Handlungen sind die praktischen Entscheidungen, die die Pflegeperson und der Patient nach der Informationssammlung treffen müssen (Planungsphase).
therapeutische oder regulatorische Handlungen, damit sind die praktischen Tätigkeiten, die der Umsetzung des zuvor Verordneten dienen (Intervention). Die regulatorischen Handlungen werden bzw. sollten durch das Pflegesystem gewährleistet sein.
Case Management – Tätigkeiten umfassen Bereiche wie die Evaluation, Kontrolle, Anleitung und Überwachung der diagnostischen, therapeutischen und regulierenden Handlungen, die bei einem einzelnen Patienten vorgenommen werden (Cavanagh, 1995, S. 56).
Somit werden alle wichtigen Aspekte der Pflege miteinbezogen und damit wird ein dynamischer Prozess gewährleistet, der auf Veränderungen des Patienten reagiert.
1 Anmerkung: Techniken zur Entspannung, Atemübungen, die Mobilisation und das Abstützen der OP-Wunde sollten praeoperativ eingeübt werden
Österreichische Pflegezeitschrift 8-9/03, S. 36 - 39